100 Filme: Die Wanderschauspieler (O thiasos)

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Die Wanderschauspieler (O thiasos)

Geschichtsdrama, Griechenland 1975, Regie: Theo Angelopoulos, Kamera: Giorgos Arvanitis, mit Eva Kotamanidou, Aliki Georgouli, Vangelis Kazan, Stratos Pahis, Maria Vassiliou, Petros Zarkadis, Kiriakos Katrivanos, Giannis Fyrios, Nina Papazaphiropoulou, Alekos Boubis, Grigoris Evangelatos

Inhalt: Griechenland zwischen 1939 und 1952: Eine eine Wanderschauspieltruppe zieht durch das Land und führt das triviale Stück Golfo, die Schäferin auf. (Das gibt es übrigens wirklich; es wurde 1892 von Spiridion Peresiades geschrieben und wurde für lange Zeit ein Bühnenhit. 1912 entstand der erste griechische Film nach dieser Vorlage.)

Der Film beginnt mit den Worten:

Herbst 1952. Wir sind wieder in Ägion, aber nur wenige von den alten. Die meisten sind neue Ensemblemitglieder. Wir sind erschöpft. Wir haben seit zwei Tagen nicht geschlafen.

Rückblenden erzählen nun vom unglücklichen Schicksal der Truppe, deren Aufführungen niemals ungestört ablaufen: Immer kommen die Wirrnisse der Geschichte dazwischen und führen dazu, dass die Darsteller nach und nach dezimiert werden.

Filmhistorisch bedeutsam, weil: Angelopoulos ist der Meister der Plansequenz. Nun mag man fragen: Was, zum Teufel, ist eine Plansequenz? Eine Plansequenz ist zunächst einmal eine lange bis sehr lange Kameraeinstellung, wobei aber nicht jede lange Einstellung automatisch eine Plansequenz ist.

Alles klar? Also:

In einer Plansequenz wird das Geschehen nicht - wie üblich - durch Schnitte und Bildmontage mitgeteilt; statt dessen verändert sich im Bild fließend etwas, sei es, dass die Darsteller kommen und gehen, sei es, dass die Kamera zum Teil weitläufige Bewegungen ausführt (Fahrten, Schwenks). So wird eine Szene gewissermaßen im Zusammenhang durchgespielt. Die wohl extremste Plansequenz findet sich in Alfred Hitchcocks Cocktail für eine Leiche (1948), der das gesamte Geschehen in Echtzeit präsentiert.

Theo Angelopoulos geht in der Gestaltung seiner Plansequenzen noch einen Schritt weiter: Er fügt gelegentlich in seinen Rückblenden verschiedene Zeitebenen in einer Einstellung zusammen und macht so Zusammenhänge deutlich, die ein Schnitt zwangsläufig wieder trennen würde. Das zeigt sich schon zu Beginn: Während die erschöpften Schauspieler 1952 in neuer Besetzung durch die Straßen ziehen, fährt die Kamera auf den Stadtplatz, wo ein Lautsprecher das Erscheinen von Joseph Goebbels ankündigt: Ohne Schnitt ist Angelopoulos ins Jahr 1939 zurückgesprungen, und als die Schauspieler wieder ins Bild kommen, sind sie entsprechend jünger, und viele von ihnen waren 1952 verschwunden.

Wie es dazu kommt, erzählt Angelopoulos in den für ihn typischen superlangen Einstellungen, die ihm - zumindest in Europa - einige Anerkennung und viele Preise einbrachten. Er selbst meint dazu:

Wenn ich die Einstellung wechselte und etwas anderes zeigte, wäre es, als ob ich bestimmen wollte, was zu sehen ist. Da ich aber lieber die Szene nicht unterbreche, ermögliche ich dem Zuschauer eine bessere Sicht auf das Bild. So kann er aus jeder Einstellung die Elemente aussuchen, die für ihn von Bedeutung sind. (zitiert nach Reclams Filmführer, Ausgabe 1991).

Das ist natürlich ein bisschen Tiefstapelei, denn Angelopoulos lenkt den Blick seiner Zuschauer genauso wie jeder andere ausgeschlafene Regisseur, nur eben anders. Dieser geradezu provokativ langsame Rhythmus, der kompromisslos einen aktiv mitdenkenden Zuschauer voraussetzt, fordert natürlich seine Zeit, und so nimmt es nicht wunder, dass Die Wanderschauspieler fast vier Stunden dauert. Die ständige Verknüpfung der Zeitebenen erfordert vom Zuschauer zudem ein hohes Maß an Aufmerksamkeit.

Für leichte Konsummierbarkeit steht ebenfalls kaum, dass Angelopoulos Wendepunkte der neueren griechischen Geschichte als bekannt voraussetzt, und in den Namen der Titelcharaktere (Electra, Orestes) nimmt er zudem Bezug auf die Atriden-Familie aus der antiken Mythologie. Ganz schön heavy stuff, wenn man solches Kino nicht gewohnt ist. Aber davon sollte man sich nicht abschrecken lassen, denn die Kunstfertigkeit der Plansequenzen ist für sich auf ganz eigene Art spannend. Als Beispiel sei die fast zehnminütige Einstellung vom Silvesterball genannt, wo die Kamera nach und nach durch den ganzen Ballsaal fährt, mal diese, mal jene Gruppe zeigt und schließlich den Raum wieder verlässt. Das ist Filmemachen auf höchstem handwerklichem Niveau.

Eine detaillierte Analyse des Films, buchstäblich Einstellung für Einstellung, findet sich in Walter Ruggles ausgezeichneter Angelopoulos-Monographie Filmische Landschaft.

Hinweis zur Verfügbarkeit: Die Wanderschauspieler gab es einmal auf DVD (zumindest in den USA), aber die ist zur Zeit vergriffen und offenbar nur zu Schweinepreisen zu haben. Eine vernünftige Gesamtausgabe des Werkes von Angelopoulos fehlt sowieso (kommerziell ist das wohl nicht gerade der Hit). Neben Die Wanderschauspieler gilt Der große Alexander (1980), worin er Aufstieg und Fall eines Despoten zeigt, als eins seiner Hauptwerke. Ebenfalls sehenswert (und mit nur knapp zwei Stunden Laufzeit zugänglicher) ist Landschaft im Nebel (1988) über die Odyssee zweier Kinder durch ein graues winterliches Griechenland. Auch wenn Angelopoupos etwa ab den 90er Jahren seinen Stil zunehmend bis zur Marotte kultivierte und in Filmen wie Der schwebende Schritt des Storches (1991) die Grenze zur prätentiösen Wichtigtuerei locker passiert, wäre doch zumindest Der Blick des Odysseus (1995, mit Harvey Keitel aus Pulp Fiction) auch einen Blick des Zuschauers wert (leider zur Zeit nur auf VHS). Ab und zu tauchen diese Filme mal in den Nischensendern und Kulturkanälen auf, die eh kein Schwein einschaltet, und in diesem Fall informiert Sie unser Cinerobot (existiert leider nicht mehr) rechtzeitig.