100 Filme: Erpressung (Blackmail)

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Auf DVD: Erpressung (Blackmail)

Thriller, Großbritannien 1929, Regie: Alfred Hitchcock, mit Anny Ondra, John Longdon, Donald Calthrop

Intro: Alfred Hitchcock ist in dieser Reihe bereits vertreten. Doch sein Einfluss war insgesamt so groß, dass neben Der unsichtbare Dritte unbedingt noch ein weiterer seiner zahlreichen Filme vorgestellt werden sollte. Als naheliegende Kandidaten hätten sich unter anderen Psycho, Das Fenster zum Hof oder Vertigo angeboten, doch die Wahl fiel am Ende auf ein weniger bekanntes Werk aus seiner Anfangszeit. Während Der unsichtbare Dritte eine relativ späte, zudem amerikanische Schaffensphase repräsentiert, steht Blackmail für die frühen, britischen Jahre Hitchcocks.

Darüber hinaus ist der Film auch aus historischen Gründen sehr aufschlussreich: Er entstand genau in der Umbruchphase von Stumm- zu Tonfilm und existiert in zwei Fassungen. Die stumme Version war hauptsächlich für den internationalen Markt gedacht, da das Synchronisieren damals technisch noch nicht möglich war (und beim Stummfilm brauchte man halt nur die Zwischentitel auszutauschen). Die Tonfassung gilt als erstes britisches Talkie (wie der Tonfilm damals scherzhaft genannt wurde, weil dort oft genug nur noch gelabert wurde).

Inhalt: Die blonde Alice, befreundet mit einem braven, manchmal etwas langweiligen Polizisten, lässt sich von einem charmanten Künstler aufgabeln und ins Atelier abschleppen. Natürlich will er ihr an die Wäsche, aber sie ersticht ihn in Notwehr. Dummerweise ein schmieriger Typ namens Tracy die flüchtende Alice in Tatortnähe gesehen und erpresst sie. Ausgerechnet ihr Polizisten-Freund ist zudem mit dem Fall beauftragt worden. Das alles zehrt an ihren Nerven. Als jedoch der Erpresser selbst unter Mordverdacht gerät, wendet sich das Blatt.

Filmhistorisch bedeutsam, weil: Während Filmemacher wie William Wyler oder Howard Hawks durch ihre Vielseitigkeit glänzten, war bei Alfred Hitchcock das genaue Gegenteil der Fall. Sein Name ist und bleibt mit der Geschichte des Thrillers verwoben. Blackmail fällt in die Phase, als dieser Weg noch gar nicht so vorbestimmt schien. Mit dem Stummfilm Der Mieter (The Lodger, 1927) hatte der junge Hitchcock sein erstes Glanzstück in diesem Genre hingelegt, und Blackmail bot ihm die Gelegenheit, mit der noch ganz jungen Tontechnik zu experimentieren.

Für viele Filmkünstler kam der Ton damals keinesfalls wie gerufen. Die Klangqualität war zunächst bescheiden (vorsichtig formuliert), und bei der Inszenierung mussten die Regisseure ständig auf die mangelnde Beweglichkeit der Aufnahmegeräte Rücksicht nehmen. Richtmikrophone gab es damals nicht, was Außenaufnahmen mit Live-Ton praktisch unmöglich machte. Um die Sprache halbwegs brauchbar einzufangen, wurden die Mikros oft irgendwo im Bild versteckt, in Blumensträußen oder sonstigen Requisiten.

Die Filmemacher allerdings hatten sich in den letzten Jahren des Stummfilms an erhebliche Freiheiten gewöhnt, Stichwort entfesselte Kamera. Spätestens seit René Clair in dem Experimentalfilm Entr'acte (1924) die Kamera auf eine Achterbahn geschnallt hatte, war das statische Aneinanderreihen von lebendene Fotografien Geschichte. Gestalterisch liegen Welten zwischen Giovanni Pastrones Cabiria (1914) und Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925).

All diese formalen Errungenschaften - die enorme Beweglichkeit und visuelle Bildkraft - machten den späten Stummfilm zu einer der fruchtbarsten Phase der Filmgeschichte überhaupt (und deshalb sind aus dieser Zeit auch relativ viele Werke in der Liste vertreten). All das sollte nun wieder aufgegeben werden, nur weil das Publikum blechernen, scheppernden Ton mit kaum verständlichen Dialogen oder belanglosem Singsang wünschte? Kein Wunder, dass ein Charlie Chaplin Ohne mich! zeterte und erst 1940 mit Der große Diktator seinen ersten echten Tonfilm vollendete.

In der Tat wussten zunächst die wenigsten Filmemacher mit dem Ton etwas Sinnvolles anzufangen. Mit Die Passion der Jungfrau von Orléans hatte der Däne Carl Theodor Dreyer 1928 noch einmal wie fürs Lehrbuch demonstriert, dass selbst ein reiner Dialogfilm ohne gesprochenes Wort möglich war. Für solche Regisseure war der Tonfilm schlicht eine künstlerische Katastrophe.

Blackmail war zunächst nicht als Tonfilm geplant, denn die tschechische Hauptdarstellerin Anny Ondra sprach kein Englisch. Nun waren aber, als die Entscheidung für den Ton fiel, viele Szenen schon gedreht. Einige Dialoge mussten nachgedreht werden, doch selbst das rein phonetische Deklamieren des Textes war Anny Ondra wegen ihres starken Akzentes unmöglich. Nachsynchonisieren ging ebenfalls nicht, und so entschied man sich für eine Art Live-Synchronisation während des Drehs: Anny Ondra bewegte die Lippen, und aus dem Off sprach eine Kollegin ihren Text.

Es ist recht interessant, die beiden Fassungen von Blackmail zu vergleichen. Hitchcock war einer der ersten, die den Ton nicht nur für Mitteilungs-Blabla einsetzten. Er wusste die noch bescheidenen Möglichkeiten der neuen Technik gleich innovativ zu nutzen. Bestes Beispiel dafür ist die Szene beim Frühstück, wo eine Frau den Hergang des Mordes schildert. Aus dem wortreichen und gewollt unverständlichen Geblubber sticht stets markant nur die Silbe knife (Messer) heraus, was Anny Ondra sichtlich auf die Nerven geht.

Formal zählt Blackmail sicher nicht zu den einflussreichsten Filmen Hitchcocks. In den entscheidenden Sequenzen aber - beim Mord, beim Frühstück, bei der finalen Täterjagd - ist seine Meisterschaft bereits voll entwickelt. Neben Der Mieter (1927) ist dies der beste der ganz frühen Hitchcocks und ein wichtiges Dokument für die Übergangsphase vom Stumm- zum Tonfilm.

Abspann: Nach dem Erfolg von Blackmail waren die Weichen für Hitchcock dann endgültig Richtung Thriller gestellt. Kein anderer Regisseur gab dem Genre so viele Impulse, kein anderer wurde so häufg zitiert (allein die Zitate der Psycho-Duschszene geht gefühlt in die Millionen). Einen Oscar erhielt er bekanntermaßen nie. Hauptdarstellerin Anny Ondra heiratete später den Box-Weltmeister Max Schmeling.