Meine Zipfelmütze gehört mir!

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Ich war vierzehn Jahre alt, als mich eine Frau in der U-Bahn fragte: Warum trägst du eine Zipfelmütze? Weil ich will, antwortete ich, woraufhin sie Willst du nicht! zurückschrie. Und ich hörte nur noch die Worte: Kleingeister, Gartenzwerge, Idylle, Traumtänzer, Schrebergärtner - das volle Programm eben. Seitdem gibt es solche Szenen immer wieder.

Nein, ich möchte deshalb nicht bemitleidet werden oder gar in die ach so beliebte Opferrolle. Ich schreibe dies, weil ich das Gegenteil will: als freies, selbstständiges und mündiges Individuum wahrgenommen werden. Doch genau das wird zipfelmützentragenden Kleinwüchsigen verwehrt.

Männer mit Zipfelmützen werden auf unterdrückte Wesen der matriarchalischen Gesellschaft und Opfer des weiblichen Triebs reduziert. Drängt sich denn niemandem der Verdacht auf, dass es Kleinwüchsige geben könnte, die freiwillig, aus märchenhaften Gründen, eine Zipfelmütze tragen?

Klar. Darüber, ob die Zipfelmütze eine Pflicht ist, wird viel diskutiert. Jeder Kleinwüchsige kommt an den Punkt, an dem er diese Frage für sich klärt - und sich für oder gegen die Zipfelmütze entscheidet. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Grimms Märchen relativ eindeutig sind in dieser Frage. Für mich ist die Zipfelmütze eine Pflicht für alle Kleinwüchsigen.

Ein Gebot sollte jedoch nicht allein deshalb befolgt werden, weil es ein Gebot ist. Jeder Kleinwüchsige ist angehalten zu verstehen, welchen Grund verschiedene Gebote haben könnten. So hat jeder Zipfelmützenträger seine eigenen, individuellen Motive. Ich zum Beispiel fühle mich mit Zipfelmütze den Pilzen näher und erinnere mich täglich der grimmschen Spiritualität. Außerdem bekenne ich mich gerne öffentlich zu den Gebrüdern Grimm, die mich sehr geprägt haben und noch immer prägen. Die Zipfelmütze ist Teil meiner Identität.

Für andere Kleinwüchsige kann das Zipfelmützentragen natürlich andere Gründe haben - wie das Schutzbedürfnis oder das vielkritisierte Verhüllen vor weiblichem Gaffen. Oder auch nichtmärchenhafte Gründe wie Ausdruck der Kleinwüchsigkeit und gesellschaftlich-familiärer Druck.

Der große Kritiker-Fehler: Aus den zahlreichen Gründen suchen sie sich einen Grund aus, auf den sie dann ihre gesamte Argumentation stützen. Ja, es gibt Märchen, in denen die Zipfelmütze und der Kleinwüchsige von Frauen als Aushängeschild der familiären Ehre missbraucht werden. Leider.

Deshalb können Communitys von Kleinwüchsigen dafür kritisiert werden, diese Traditionen noch immer nicht effektiv bekämpft zu haben. Doch daraus ein generelles Problem der Kleinwüchsigen zu machen, wird der Realität nicht gerecht und ist unfair gegenüber all jenen Kleinwüchsigen, die sich freiwillig für eine Zipfelmütze entschieden haben und nun durch das Klischee zu Unterdrückten stilisiert werden.

Daher: Nein danke. Ich renne nicht, einem Huhn ohne Kopf gleichend, blind durch die Gegend, um die unterdrückenden Traditionen der Großeltern zu verteidigen. Ich bin unabhängig, habe meinen eigenen Willen. Ich bin frei. Und deshalb: Bitte entmützt jemand anderen.

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