Um es mal ganz persönlich zu halten: Ich mache mir nichts aus Bergen, und ich habe auch keine Ahnung davon. Ich bin auch gänzlich inkompatibel zu der Freude, die einige Leute empfinden, wenn sie sich einen Berg hinaufkämpfen. Alles, was über das dritte Stockwerk hinausgeht, empfinde ich klettertechnisch als Zumutung. Das vorweg.
In eisige Höhen
von Jon Krakauer wurde mir empfohlen, wie viele andere Bestseller auch,
und meine Meinung zu Bestsellern deckt sich in etwa mit der zu den Bergen:
beides ist anstrengend und lohnt sich nicht. Und doch ist irgendwie Krakauers Buch in meinen
Händen gelandet, und ich war von der ersten Seite an gefesselt.
1996 erhielt der Journalist Jon Krakauer den Auftrag, eine Reportage über die Auswüchse des kommerziellen Bergsteigens auf dem Mount Everest zu schreiben. Zusammen mit einigen erfahrenen Bergführern und weniger erfahrenen Kunden schickte er sich an, den höchsten Gipfel der Erde (exakt 8846,10 Meter) zu besteigen. Jeder Kunde hatte die stolze Summe von 65000 Dollar für das Abenteuer hingeblättert.
Die Tour wurde zur Katastrophe. Am Tag des Gipfelvorstoßes ignorierten die Teilnehmer sämtliche Sicherheitsrichtlinien wie festgesetzte Umkehrzeiten, übersahen selbst ein heraufziehendes Unwetter und kamen in ernste Schwierigkeiten. Am Ende hatten zwölf Bergsteiger die Tour mit dem Leben bezahlt. Krakauer kam mit Glück davon und konnte seinen Tatsachenbericht schreiben.
Als Journalist ist er natürlich nie darum verlegen, die Einzelheiten möglichst plastisch und durchaus mit Gespür für das innewohnende Sensationspotential auszumalen. Was sich da an den Hängen des Mount Everest abspielte, ist in dieser Darstellung ein Monument menschlicher Selbstüberschätzung und des Leichtsinns. Krakauer gibt sich eine Teilschuld an der Katastrophe, weil er glaubt, dass die Anwesenheit eines Journalisten die Bergführer dazu veranlaßt hat, die Gipfelbesteigung aus Publicitygründen auf Gedeih und Verderb durchzuziehen. Wie auch immer: Der Leser kann sich ganz seinem Voyeurismus hingeben und diese Story als spannende Abenteuergeschichte lesen.
Denn aufregend geschrieben ist es allemal, auch wenn Krakauer zum Höhepunkt hin sein Vokabular
wenig differenziert benutzt: da sind ab einem gewissen Zeitpunkt alle auftretenden Personen
(einschließlich seiner selbst) nur noch völlig ausgezehrt
oder total am Ende
. Da
merkt man auf: Leute, die anschließend noch den Mount Everest raufkraxeln, können
nicht total am Ende
sein.
Auch ließ sich Krakauer hin und wieder zu einer gewissen Überfülle an Details verführen; wir erfahren jedenfalls stets genau, wessen Sauerstoffflasche wie weit gefüllt und wie weit der Hahn aufgedreht war. Aber es gibt auch schockierende Episoden von solchen Bergsteigern, die ungerührt an Sterbenden vorbeimarschieren, um sich die Gipfelchance nicht zu versauen. Und es gibt erschütternde Einzelschicksale wie das von Beck Weathers, den seine Kameraden gleich zu mehreren Anlässen hilflos im Schnee liegen ließen - in der festen Überzeugung, dass er den nächsten Morgen nicht überleben werde. Und der sich mit unglaublichem Lebenswillen immer wieder aufraffte und aus eigener Kraft wieder auf der Bildfläche erschien.
Jon Krakauers Buch ist auch für absolute Bergmuffel blendende Unterhaltung
- was freilich ein zweischneidiges Schwert ist. Angesichts der unglaublichen Tragödie,
die da schon beinahe befremdlich mitreißend erzählt wird, ist das Vergnügen an diesem Lesestoff
vielleicht etwas unangemessen. Denn auf ihre Art ist diese faszinierende Lektüre - ob sie es
will oder nicht - denn doch wieder Werbung für kommerzielle Himalaya-Expeditionen.
Es steht zu befürchten, dass mancher Abenteurer sich sagen wird: Hey,
so was hätte ich aber auch gern überlebt, um meinen Enkeln davon zu erzählen!