Auf DVD: Das Cabinet des Dr. Caligari
Horror, Deutschland 1919/20, Regie: Robert Wiene, mit Werner Krauss, Conrad Veidt, Lil Dagover, Friedrich Feher, stumm, s/w
Intro: Wer hierzulande noch eine solide Schulbildung genossen hat,
durfte sicher irgendwann einmal ein expressionistisches Gedicht interpretieren,
beispielsweise
Patrouille
von August Stramm. Und im Kunstunterricht wurden (hoffentlich) Werke von
Edvard Munch
oder
August Macke
präsentiert. Da aber filmhistorische Bildung in den Schulen meist keine Rolle spielt,
ist schon weit weniger bekannt, dass der
Expressionismus
auch im
Kino
eine bedeutende Rolle spielte, und zwar ganz besonders in Deutschland.
Der visuelle Stil, den Regisseure wie Robert Wiene oder Friedrich Wilhelm Murnau Anfang der 20er
Jahre entwickelten, hatte einen enormen Einfluss auf Hollywood und ist bis heute spürbar.
Tim Burton
zum Beispiel ist ganz massiv beeinflusst vom deutschen Expressionismus im allgemeinen und von Das
Cabinet des Dr. Caligari
im besonderen.
Inhalt: Auf einem Jahrmarkt taucht der mysteriöse Schausteller Dr. Caligari auf, der in einer sargähnlichen Kiste den angeblich allwissenden Somnambulen Cesare mitschleppt. Wenn er einem Fragesteller dessen baldigen Tod prophezeit, liegt er damit verdammt richtig. Das liegt vor allem daran, dass Caligari seinen Cesare als willenloses Mordinstrument missbraucht. Am Ende entpuppt sich der ganze Kriminalfall freilich als die Wahnvorstellung des Insassen eines Irrenhauses.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Nach dem Ersten Weltkrieg lebte es sich in Deutschland
nicht allzu feudal, alles war knapp, selbst der Strom war in Berlin rationiert.
Da ließ sich doch trefflich sparen, wenn man einen Film nicht in realistischen Kulissen drehte
(denn deren Ausleuchtung hätte viel Strom erfordert) drehte, sondern vor bemalter Pappe.
In der frühen Stummfilmzeit war das noch völlig normal gewesen (siehe
Die Reise zum Mond
).
Aber allerspätestens seit Großproduktionen wie
Die Geburt einer Nation
(1915) war es das Publikum gewohnt, richtige Landschaften und Bauten auf der Leinwand zu
sehen. Dafür aber fehlte beim Caligari
das Geld.
Also machte Robert Wiene aus der Not eine Tugend und ließ sich von seinen ausgeschlafenen Filmarchitekten Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig nur zu gern eine bizarr durchgestylte Kulisse aufschwatzen, in der es kaum einen rechten Winkel gibt; selbst die Zwischentitel sind schief und schräg, bisweilen bis an die Grenze der Lesbarkeit. Als stilbildend für den filmischen Expressionismus erwies sich Wienes Vorliebe für starke Kontraste, etwa aus Gegenlicht und Silhouette, aber auch durch bewusst grelle Ausleuchtung mit krassen Schlagschatten. Das amerikanische Horrorkino der 30er und 40er Jahre ist diesem Stil zutiefst verpflichtet; auch der Film noir hat zumindest eine seiner Wurzeln im deutschen Expressionismus.
Mit seiner Bildästhetik schrieb (und schreibt) Das Cabinet des Dr. Caligari
Filmgeschichte; nicht ganz so glücklich war Regisseur Wiene indes beraten,
durch den im Originaldrehbuch nicht vorgesehenen
Plot Twist
die Aussage der Story in ihr Gegenteil zu verkehren: Ursprünglich war Caligari eine Art
Superverbrecher, der den Menschen ihren Willen raubt und sie dann skrupellos für seine Ziele
einsetzt. Das lässt sich natürlich gerade in der Weimarer Republik auch politisch deuten.
Wiene dagegen interpretiert diese nur allzu prophetische Warnung um und macht daraus … ganz
harmlos! … die gegenstandslosen Hirngespinste eines unheilbar Durchgeknallten.
Lesetipp dazu: Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler - Eine psychologische Geschichte des deutschen Films