Das 9€-Ticket

Geschrieben von am .

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
ich kenn' auch die Herren Verfasser.
Ich weiß: sie trinken heimlich Wein –
und predigen öffentlich Wasser.

Vorab: ich besitze ein Netzticket des Verkehrsverbundes Rhein-Sieg, gültig an Wochentagen ab 9 Uhr, am Wochenende ganztägig. Der Preis wird mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerkes jährlich erhöht; zurzeit bezahle ich 130,30 Euro. Wohlgemerkt pro Monat. Rabatt für treue Kunden? Fehlanzeige. Mein Kfz habe ich abgegeben, als ich vor Jahren in die Innenstadt gezogen bin. Damit habe ich mich und bin ich der Gnade des VRS (und bei längeren Strecken der Deutschen Bahn) völlig ausgeliefert.

Ich schreibe also hier nicht wie der Blinde von der Farbe. Nicht wie Langstrecken-Luisa. Nicht wie Greta, die sich "klimaschonend" auf einer Millionen-teuren Yacht segeln lässt, während ein Dutzend Helfer eingeflogen werden. Nicht wie die klimabewegten und Verkehrs-gewendeten Grünen-Wähler, die, gehtjanichanners, täglich mit dem tonnenschweren SUV ihr Kind zur Schule fahren (ich bin zu Fuß zur Grundschule und mit Straßenbahn oder Fahrrad zum Gymnasium) und danach 50 km zum ökologischen Direkteinkauf beim nachhaltigen Biobauern. Nicht wie der Minister, der, statt Lastenrad oder E-Scooter zu nutzen, sich auch kurze Strecken mit der Panzerlimousine chauffieren lässt und statt des ICE den Heli nimmt, dann aber vom Klima und Verkehrswende faselt. Und nicht wie die Teilnehmer des Word-Economic-Forums, die der Welt Verzicht predigen, aber mit dem Learjet anreisen.

Quark

Als Beispiel für den Quark, den unsere Qualitätsmedien™ zum 9-Euro-Ticket schreiben, habe ich einen Tweet der Sendung Quarks des WDR ausgewählt:

Quarks verzichtet darauf, den Normalpreis für das Ticket zu nennen. Aus gutem Grund. Denn mit etwas Recherche auf den Seiten des VRS finden wir für die Strecke Solingen — Köln die Preisstufe 4, das zugehörige Monatsticket kostet im Abo 201,70 €. Pro Monat. Diesen Betrag zahlen Sie oder – während der drei Monate – die Steuerzahler. Und dieses Ticket gilt nur für die Ziele in Preisstufe 4. Sie können damit nicht nach Sylt fahren.

Des Weiteren hat Quarks den Start und das Ziel so gewählt, dass kein Umsteigen nötig ist. Das Hauptgebäude des WDR ist bequem zu Fuß vom Hauptbahnhof zu erreichen.

Ändern wir also den Start auf das Solingen benachbarte Hilden (Hbf) und wählen als Ziel Köln, aber nicht den WDR, sondern das Deutschlandradio am Raderberggürtel 50. An der Entfernung ändert sich nichts. Auch nicht am Preis. Wohl aber an Fahrzeit und Bequemlichkeit.

Schauen Sie selbst bei der Fahrplanauskunft der Deutschen Bahn nach: Sie können wählen zwischen 2× Umsteigen und 1h 18min Fahrzeit oder 3× Umsteigen und 1h 10min Fahrzeit. Die kurzen Teilstrecken können Sie nicht mehr zum Arbeiten nutzen, beim Umsteigen stehen Sie ja nach Jahreszeit in der Kälte oder werden von der Klimaerhitzung gebraten, und — das wissen die Schwätzer der Medien nicht, regelmäßige Nutzer des ÖPNVs aber umso besser — jedes Umsteigen führt dazu, dass Sie bei einer Verspätung das Anschluss-Verkehrsmittel nicht mehr erreichen und auf das nächste warten müssen. Das sind mindestens 10 Minuten mehr, oft 30 Minuten, und gerne auch mal eine ganze Stunde.

Schauen wir also der Realität ins finstere Gesicht:

Nein, die Bahn hat keine klaren Vorteile.
Verkehrsmittel Werte
Bahn: reale Kosten: 201,70 Euro
CO₂: ?
Zeit: pro Fahrt: 70 Minuten (mit etwas Glück)
Umsteigen:
Verspätungsrisiko: hoch.

Liebe Quarks-Redaktion, könnt ihr bitte eine Tabelle erstellen und veröffentlichen, die für jeden Mitarbeiter (natürlich anonym) den ungefähren Wohnort, das genutzte Verkehrsmittel sowie Kosten und Zeitaufwand der Anreise auflistet? Vielleicht nehmen Sie auch den Intendanten, den Programmdirektor und die übrigen Großkopferten in die Tabelle auf?

So als Realitätsabgleich.

Doch wissen Sie was? Eigentlich brauche ich die Tabelle nicht. Ich kenne das Ergebnis schon. Bereits Heinrich Heine kannte das Ergebnis.

ÖPNV

Nun fahre ich prinzipiell gerne mit der Bahn. Kurze Strecken auch mit dem Bus. Denn anders als im privaten Kfz kann ich die Zeit nutzen und am Laptop arbeiten oder aus dem Fenster schauen und die Gedanken schweifen lassen.

Im Prinzip.

Denn in der Realität müssen Sie im ÖPNV das Gelaber und das Autotune-Gejaule aus Boomboxen ertragen und sind den olfaktorischen Heimsuchungen durch Wildfremde schutzlos ausgeliefert. Busse und Bahnen sind häufig überfüllt, dann darf ich stehen; und wenn ich mal einen Sitzplatz ergattere, setzt sich eine Ricarda-Lang-Lookalike-Contest-Gewinnerin auf den Nachbarsitz, auf den sie nicht passt, und quillt auf meinen Sitzplatz. Wer noch nie ÖPNV gefahren ist, kann sich nicht vorstelle, wie widerlich das ist.

Um dies zu vermeiden, praktizieren viele Frauen Bagspreading: sie stellen die Taschen mit Shopping-Beute neben sich oder gleich auf drei Sitze, um eine Vierergruppe für sich alleine zu halten. Und verschärfen damit das Problem mangelnder Sitzplätze. Versuchen Sie mal, jemanden zu bewegen, seinen Reisekoffer vom Sitz zu nehmen, weil auch Sie gerne sitzen wollen. Es gibt zu wenig Platz für Gepäck. Entweder werden Sie abgewiesen und müssen aggressiv werden, um an den Sitz zu kommen, oder der Koffer verstopft danach den Gang. Dass die Sitze einen zu geringen Abstand haben, um eine Zeitung auszufalten oder einen Laptop aufzuklappen: geschenkt.

Die Klimaanlagen, so vorhanden, betriebsbereit und eingeschaltet (nichts davon können Sie voraussetzen) reichen im Sommer bei weitem nicht aus, die Temperatur auf gesundheitlich unbedenkliche Werte zu senken. Und natürlich können Sie im deutschen Regionalverkehr — anders als in der Schweiz — die Fenster nicht mehr öffnen. Sie sind Technik und Personal ausgeliefert.

Im Winter ist der ÖPNV ein Erkältung-Inkubator. Da frieren Sie sich im Wartehäuschen – so eins vorhanden und nicht vollgesifft — den Arsch ab, um dann im überhitzten Bus, in dem Kondenswasser von allen Fenstern rinnt, abwechselnd schwülwarm (während der Fahrt) und saukalt (an den Haltestellen bei offenen Türen) luftgeduscht zu werden.

Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel schädigt Ihre
psychische (und möglicherweise auch physische) Gesundheit.
Busse und Bahnen sollten einen Warnhinweis tragen.

Dazu: Versiffte Bahnhöfe und Haltestellen, Bahnhöfe und Haltepunkte ohne Toiletten, unverständliche Automaten (ich zähle schon nicht mehr, wie oft ich anderen beim Ticketkauf geholfen habe), die gerne keine Scheine annehmen (Bezahlen Sie mal 30 € in Münzen) oder gleich ganz defekt sind (erklären Sie das dem Kontrolleur), Prolls als Kontrolleure, Verspätungen und Zugausfälle, fehlende Waggons, falsche Reihenfolge der Waggons, die erst kurz vor der Einfahrt, während der Einfahrt oder gleich gar nicht durchgesagt wird (Sind Sie schon mal 16 ICE-Wagenlängen auf Zeit gelaufen? Mit Gepäck?), unverständliche Durchsagen, weil auf dem Nachbargleis ein Zug durchfährt (was der Durchsage-Computer durch LZB wissen könnte; ist wohl Neuland) und fehlende Durchsagen, überraschende Gleiswechsel, besonders beliebt bei nicht mehr ganz so fitten Menschen mit Gepäck, Haltepunkte ohne Haltemarkierung, bei denen der Zug je nach Tagesform des Lokführers (für die Korinthenkacker: Triebfahrzeugführer) mal ganz vorne und mal ganz hinten hält (Grüße an die Deutsche Bahn, schaut euch mal Rhöndorf an!), alpine Anforderungen beim Einsteigen (dito Rhöndorf, mit Rollator chancenlos), fehlende oder sogar falsche Haltestellen-Ansagen (Sind Sie schon einmal aus Versehen nachts um 11 in Eller-Süd ausgestiegen?😱) defekte Toiletten, defekte Türen (Sind sie schon einmal mit einem Gelenkbus gefahren im Schienenersatzverkehr, ergo völlig überfüllt, da immer zu wenig Busse bereitgestellt werden, bei dem die hintere Türe defekt ist und Sie sich zum Aussteigen durch 10 Meter Menschenblob quetschen müssen? Mit Gepäck? Während Corona?), ein Streik während der Corona-Epidemie, der zu völlig überfüllten Zügen führte und zu wer-weiß-wie-vielen Ansteckungen, und über den mich die Bahn-App nicht am Vortag, sondern gerade mal 2 Stunden vor Abfahrt informierte, zu spät zum Umbuchen (dazu schreibe ich noch was). Stress, Stress und nochmal Stress. Richtig verarscht kommt man sich vor, wenn man sich von einem Güterzug überholen lassen muss (so geschehen in Troisdorf), wohl weil da ein belegtes Gleis und die daraus folgende Verspätung mit einer Konventionalstrafe belegt ist, während meine Zeit offensichtlich als wertlos angesehen wird.

Ich hab mal gehört, die Bahn betrachte Menschen als Selbstverladendes Stückgut, und ja, genau so fühlt man sich im deutschen ÖPNV.

PKW

Während Sie im privaten PKV eine Sitzplatzgarantie haben, das Gepäck ordentlich unterbringen können, nach Gusto das Fenster öffnen oder Heizung oder Klimaanlage auf eine angenehme Temperatur einstellen und bei angenehmer Musik ihrer Wahl die Fahrt genießen. Ohne Umsteigen. Und ohne Gesichtswindel.

Ok, am Laptop arbeiten können Sie im PKW nicht. Das können Sie aber am Zielort in der eingesparten Zeit nachholen.

9–Euro–Ticket

Nachdem ich mich ausgiebig ausgekotzt habe, meine Gedanken zu diesem unsäglichen Projekt.

  • Das 9–Euro–Ticket gilt in manchen Fernzügen, aber nicht in allen Regionalzügen. Und in der Verbindungssuche der Deutschen Bahn gibt es keinen Schalter, der nur 9 Euro-Verbindungen sucht. Willkommen in Absurdistan. Das fängt ja gut an.
  • Ich bezahle monatlich 130,30 € für mein Ticket. Da das auf 9 € reduziert wird, braucht es 13 neue ÖPNV-Kunden, um diesen Verlust nur bei mir auszugleichen. Die gibt es nicht. Und die passen auch nicht in die verfügbaren Züge. Damit wird es wird absolut weniger Einnahmen geben.
  • Woher sollen die neuen Kunden kommen?
    1. Wer bereits ÖPNV-Kunde war, kann kein Neukunde sein. Allenfalls kann daraus ein Ehemals-Kunde werden.
    2. Wer bisher PKW fuhr, wird sich einmal ein Feigenblatt-9€-Ticket kaufen, angewidert die erste Fahrt abbrechen und dann das Kfz wieder aus der Garage holen. Der ÖPNV in Deutschland ist kundenfeindlich. Und das liegt nicht nur am Preis.
    3. Die bisherigen Schwarzfahrer sind für drei Monate keine Schwarzfahrer. Aber nur für drei Monate. Danach sind es wieder Schwarzfahrer. Denn die kennen den ÖPNV, die wollen oder müssen ihn nutzen und wollen oder können den nicht bezahlen. Für die ändert sich nichts zwischen vorher und nachher.
    4. Bleiben die, die aus Jux und Tollerei zum Spaß in der Gegend herumfahren. Weil kostjanix. Mit diesem Hintergrund werden sie wie Heuschrecken einfallen, die Züge überfüllen und versiffen und so die bisherigen (oft gezwungenermaßen) treuen Kunden nerven und verärgern und die mit Alternativen hinaustreiben. Zum Glück nur 3 Monate lang. Wobei das Hinausekeln nachhaltig ist: die Rausgeekelten kommen nicht mehr zurück. Niemand mietet sich für diese drei Monate ein Kfz und kommt dann zum ÖPNV zurück.
  • Die vollmundig versprochenen zusätzlichen Züge wird es nicht geben, denn es fehlen das rollende Material und die Besatzung. Wie sonst wären die bereits jetzt fehlenden Waggons und ausgefallenen Züge zu erklären?
  • Viele Strecken bereits heute überlastet. Wenn Ihr Regionalexpress in Leverkusen auf Gleis 3 einfährt, wissen Sie schon: es folgen Überholungen durch den Fernverkehr. Und Ihre Reiseplanung ist Makulatur.
    Die Schweizer Bundesbahnen warten seit vielen Jahren auf den versprochenen Ausbau der Strecke Karlsruhe – Basel. Da fahren zurzeit die S-Bahn, der Nahverkehr, der Fernverkehr und der Güterverkehr auf zwei Gleisen. Von der Erweiterung auf vier Gleise (und die wären noch zu wenig) sieht man: exakt, genau nichts. Während die Schweizer zwischenzeitlich mal eben so den Gotthard-Basistunnel in Betrieb genommen haben.
  • Ich bin gespannt auf die Auswertung nach den drei Monaten. Denn es würde mich nicht wundern, wenn es dann weniger und nicht mehr Abonnenten gibt.
  • Wer wirklich neue Kunden für den ÖPNV gewinnen will, muss ganz allgemein den Stress reduzieren. Denn bei einer Umsteigezeit von 10 Minuten zum Anschluss-Bus, der nicht wartet und nur einmal je Stunde fährt, bekommen Sie sehr schnell Panik, wenn ihre Verspätung Halt für Halt zunimmt und auf die 10 Minuten zusteuert: einen ÖPNV-Einsteiger werden Sie so sehr schnell wieder los. Die Transportunternehmen sollten lernen, dass ihr Produkt nicht der Bus ist, der mehr oder weniger pünktlich von B nach C fährt. Das Produkt besteht darin, bequem und sicher und halbwegs angenehm von A über B und C nach D zu kommen. Welches Verkehrsunternehmen im einzelnen verantwortlich ist, wenn das nicht funktioniert, interessiert mich nicht. Der Deutschen Bahn ist es egal, wenn der Anschlussbus eines anderen Unternehmens weg ist. Mir nicht.

Konsequenz

Ich benutze den ÖPNV mit einem Abo-Ticket, hab meine Karre verkauft und bin damit auf den ÖPNV angewiesen. Und ich weiß nicht, was ich die nächsten drei Monate tun soll. Vielleicht ist ja ein Upgrade auf die erste Klasse möglich, von dem die 9€-Asi-Tickets ausgeschlossen sind.

Sind die Erfahrungen der nächsten drei Monate gar zu furchtbar, werde ich vor der nächsten 9 €-Aktion mein Abo kündigen und wieder auf ein Kfz umsteigen.

Und ich denke, da bin ich nicht der einzige.

Nachträge